Montag, 1. Januar 2007

Raimund Vogels - kultureller Wandel am Beispiel der Musik

Die folgenden Notizen basieren sowohl auf meinen Notizen während des Vortrages und der nachfolgenden Diskussion zwischen dem Publikum und Prof. Vogels sowie der gedruckten Version im Sammelband der Stiftung Niedersachsen »älter – bunter – weniger« Die demografische Herausforderung an die Kultur, Transcript Verlag.
Dies ist meine Wiedergabe und Interpretation des Vortrags von Prof. Vogels.

Demografie und kultureller Wandel am Beispiel der Musik
Prof. Dr. Raimund Vogels ist Vizepräsident der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Musikwissenschaft und bezeichnet sich selber als Musikethnologe.

Die Vergleichende Musikwissenschaft löste den unilinearen Evolutionismus ab; der von kulturellen Stufen ausging auf dessen Höhe die so genannte klassische Musik gesehen wurde.
"Das zu Grunde liegende Paradigma sah für die europäische Musik die Möglichkeit zur geschichtlichen Entwicklung mit teleologischen Orientierung an Brahms oder Wagner, später Schönberg, als konstitutiv an. Die Kulturen Afrikas und Asiens dagegen repräsentierten frühere Stufen auf dem Weg zur Mehrstimmigkeit. Eine geschichtliche Entwicklung im westlichen Sinne einer Musikhistorie konnte diesen Musikkulturen per definitionem nicht zugestanden werden, für sie blieb nur der statische Erhalt oder, was wahrscheinlicher schien, der Untergang". (Raimund Vogels, S. 163-164 im oben genannten Band)
Diese von Prof. Vogels im Vortrag gewählte Vergangenheitsform wird aber selbst häufig von heutigen Musikstudierenden zunächst nicht akzeptiert, da sie
"(...) von der selbstverständlichen Überlegenheit der westlichen Kunstmusik ausgehen und den Rest der Welt musikalisch für weitgehend primitiv halten (...)." (Raimund Vogels, S. 164, ibid.)
Raimund Vogels gab die folgende Erklärung für dieses kulturelle Überlegenheitsgefühl. Mit der Säkularisierung in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgte eine Emanzipation sowohl vom Adel als auch von der Kirche. Im 19. Jahrhundert wurde das "Genie" konstruiert als Projektion des Göttlichen auf den Einzelnen. Damals entstand das Konzept vom Genie in der Wort- und Tonkunst.

Doch wie Prof. Vogels weiter ausführte, kann jede Art von Musik nur im Kontext ihrer gesellschaftlichen Einflussfaktoren verstanden werden. Die so genannte klassische Musik ist essentiell eine Musik der bürgerlichen Gesellschaft. Mit der relativen und absoluten Verkleinerung dieser Gesellschaft kommt ihre idealisierte Musikform in eine Krise.
Seit Jahrzehnten ist eine zunehmende Ausdifferenzierung der Musikformen und ihrer Konsumenten zu sehen. Es gibt keine lineare Entwicklung vom Pophörer in der Jugend zum Klassikhörer als reifer Erwachsener. Mit der zunehmenden Individualisierung in der westlichen Gesellschaft entstehen immer mehr musikalische Szenen mit einer In-group als Promotor. Die Konsumenten von Musik wechseln in der Regel die verschiedenen Szenen und, so formulierte es Prof. Vogels in der Diskussion, die so genannte klassische Musik ist heute nur noch eine von vielen anderen musikalischen Szenen.

Prof. Raimund Vogels hat mir aus der Seele gesprochen, da die Arroganz vieler "Klassik"-Nutzer gegenüber anderen Musikstilen mich immer wieder nervt und er hat mir endlich erklärt, wie diese Arroganz entstehen konnte.

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